Eine Sichtung einschlägiger Literatur zur Kollektivismus-Individualismus-Debatte
in den Sozialwissenschaften verstärkt den Eindruck, daß sich die Fronten
aufweichen: einerseits die Vertreter des methodologischen Individualismus, die nur
die mikrobasierte Forschung zulassen möchten, andererseits die Makrotheoretiker, die die
großflächigen Muster sozialer Strukturen in vielen Fällen nicht als eine bloße
Aggregation der Verhaltensweisen von Einzelindividuen ansehen.
So ist die verhaltenstheoretische Orientierung auf der Grundlage eines kruden
Behaviorismus ebensowenig noch zu finden wie die holistische Auffassung, der gemäß das
Soziale auch ontologisch einen eigenständigen Bereich der Wirklichkeit bildet.
Als Beispiel dafür, wie sich diesseits solcher Extrempositionen heute
argumentieren läßt, werden zwei Modelle vorgestellt, die trotz der angesprochenen Konvergenzen
die Eigenmächtigkeit des Sozialen vehement propagieren oder explizit verneinen:
Karl Otto Hondrich vertritt die These, daß die Wechselbeziehungen zwischen den
Individuen durch ihre "situationslogischen" Beschränkungen, die sich aus dem
Zwang zum Präferieren, Teilen, Kommunizieren und Handeln ergeben, moralische
Optimierungsversuche des Menschen torpedieren. Dies gilt sowohl für
erzieherische als auch für dereinst vielleicht mögliche gentechnische Versuche. Somit wird sich jede wirkliche und jede denkbare Gesellschaft unabhängig von den individuellen Merkmalen ihrer
Mitglieder auf ein bestimmtes Verhältnis zwischen Gut und Böse, Innen und Außen,
Zugelassenes und Tabuisiertes einpendeln.
Randall Collins hingegen sieht alle makrosozialen Größen als Zusammenfassung mikrosozialer Motive und damit im Unterschied zu den neoklassischen Marktmodellen gerade nicht als Resultat eines rationalen, bewußten Austauschs. Vielmehr bilden konkrete Emotionen in Gesprächssituationen (und nicht etwa Inhalte oder Wahrheitskriterien) und deren rituelle Verstärkung in sozialen Gruppen den kausal wirksamen Mechanismus zur Bildung von Makrostrukturen, die wir sie beispielsweise in Institutionen oder in der Verteilung von Meinungskollektiven.
Diese beiden besonders scharf konturierten Positionen können jedoch nicht für
einen mainstream stehen, da die Debatte inzwischen zwar mehrheitlich
verhaltenstheoretisch dominiert, aber im übrigen sehr verzweigt und differenziert
geführt wird. Grundsätzlich ist dabei eine Tendenz weg von der Unvereinbarkeit
und hin zur gegenseitigen Ergänzung mikro- und makrotheoretischer Konzepte zu
beobachten.
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